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Wie Littel-Piet auf dem Weihnachtsmarkt verloren ging

 

Vor langer Zeit, als es noch wenige Autos auf den Straßen gab und noch keine Handys, lebte in der großen Stadt Berlin ein kleiner Junge. Natürlich wohnten noch andere kleine Jungen in der Stadt, aber der, von dem ich erzählen will, hieß Littel-Piet und er war genau sechseinhalb Jahre alt. Der kleine Junge war als letzter in der Familie Kobi angekommen, deshalb nannten ihn alle Littel-Piet.

Zur Familie gehörten noch Mama Kobi und Vater Kobi, Schwester Biggi, die acht Jahre älter war und Bruder Jörgi, der neun Jahre älter war als der Jüngste.

Littel-Piet hatte ein lustiges Gesicht, braune Augen und rings um den Kopf hellbraune Locken. Darüber wunderte sich Mama Kobi bisweilen, da niemand sonst in der Familie einen Lockenkopf besaß. Wegen der Locken und weil er der Jüngste war, fanden ihn alle in der Familie sooo niedlich. Und auch alle, die zu Besuch kamen. Dass er der Jüngste war, hatte aber nicht nur Vorteile, denn Littel-Piet wurde von allen anderen erzogen. Von seiner Mama natürlich, von seinem Vater, wenn der da war, von dem älteren Bruder und von seiner Schwester. Als Littel-Piet so alt war wie Biggi und Jörgi, waren die beiden immer noch älter. Und Littel-Piet durfte in seiner Kindheit niemals jemanden erziehen.

Andererseits war es aber auch von Vorteil, dass er so viele Erzieher hatte. Wahrscheinlich war Littel-Piet deshalb so schnell klug geworden. Mit seinen sechs und einem halbe Jahr galt er schon als ziemlich pfiffiger Bursche. Littel-Piet und seine Familie wohnten in einem großen Haus mit fünf Eingängen, in einem riesigen Neubauviertel von Berlin. Die Nummern der fünf Eingänge waren groß und in verschiedenen Farben gemalt. So konnten auch schon die kleinen Kinder vom Spielplatz auf dem Hof allein nach Hause finden. Sie erkannten ihren Eingang an der Farbe der großen Zahl.

Vier Wochen vor Weihnachten öffnete in Berlin immer der riesige Weihnachtsmarkt auf dem Alexander-Platz. Das war mitten in der Stadt. Am Eingangstor des Weihnachtsmarktes stand eine hohe geschmückte Tanne. Viele Eltern waren mit ihren Kindern schon auf dem Weihnachtsmarkt gewesen. Nur Mama Kobi hatte keine Zeit. Sie musste jeden Tag lange arbeiten und wenn sie heimkam, war es zu spät. Und Vater Kobi fuhr oft auf Dienstreise und war jetzt gerade wieder weg. Alle Kinder aus Littel-Piets Klasse waren schon auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, nur Littel-Piet noch nicht. Da wollte er auch gern hinfahren.

An einem Mittwoch kam Mama Kobis Schwester Billa zu Besuch. Sie wollte mit ihrer Tochter Katrinchen auf den großen Weihnachtsmarkt gehen. Katrinchen war Littel-Piets Cousine. Sie war erst fünf Jahre alt. Mit solch kleinen Kindern spielte er sonst nicht mehr. Für Katrinchen machte Littel-Piet eine Ausnahme.

"Ich nehme Littel-Piet und biggi gern mit", schlug Tante Billa vor. Mama Kobi war froh und sofort einverstanden. So fuhren Littel-Piet, Biggi, Katrinchen und Tante Billa mit der S-Bahn von der Station Rummelsburg zum Alexander-Platz ins Zentrum von Berlin.

Oh, was war das für ein Gedränge von großen und kleinen Leuten zwischen den vielen Holzbüdchen und Pfefferkuchenhäusern. Es roch so fein nach Gebratenem, nach Zuckerzeug und Nüssen. Und von überall erklang eine feine Weihnachtsmusik. Tante Billa kaufte den drei Berliner Rangen zuerst eine rosa Zuckerwatte am Stiel, dann jedem ein Los aus der Tierpark-Lotterie. Doch niemand gewann etwas. Dann bekam jedes Kind noch einen Apfel, der mit Schokoladenglasur überzogen war. An der nächsten Bude warfen die Kinder mit Stoffbällen auf Blechdosen. Nur Katrinchen nicht, sie war noch zu klein. Biggi gewann eine Papierpfeife, die bunt bemalt war und sich wie eine Schlange ausrollen konnte. Die wollte Littel-Piet auch gern haben, aber Biggi steckte sie rasch in ihre Jackentasche.

Und plötzlich standen sie alle vor einem wunderschönen alten Kinderkarussell. Littel-Piet stieg sofort in das Feuerwehr-Auto und Katrinchen wollte auf einem kleinen Reitpferd sitzen. Biggi fand, dass das Kinderkarussell zu klitzeklein für sie war. Sie blieb bei Tante Billa, die neben dem Karussell wartete.

"Bleib' am Karussell stehen, wenn du nachher aussteigst", rief Tante Billa Littel-Piet hinterher und glaubte, dass er sich das merken würde. Doch Littel-Piet hörte nicht mehr so genau hin. Er war schon zu sehr mit seiner Feuerwehr beschäftigt. Er drückte auf den Sirenen-Knopf und probierte das Lenkrad seines Feuerwehr-Autos aus. Ja, er war schon fast ein echter Feuerwehrmann.

Als das Karussell wieder hielt, hoben Tante Billa und Biggi Katrinchen von ihrem Holzpferdchen. Dann drehten sie sich nach Littel-Piet um. doch der war plötzlich verschwunden. Er saß nicht mehr im Feuerwehr-Auto und er stand auch nicht daneben. Wo mochte er sein? Biggi ging links, Tante Billa rechts um das Karussell herum. Doch nirgends konnten sie Littel-Piet entdecken. Auch die Leute, die um das Karussell herum standen, wussten nichts von ihm. Niemand hatte den kleinen Jungen mit den hellbraunen Locken gesehen.

Doch Littel-Piet war längst auf dem Weg. Als Biggi und Tante Billa seinen Namen durch den Lautsprecher ausrufen ließen, hatte er schon an dem großen Tannenbaum vorbei das Tor des Weihnachtsmarktes nach draußen passiert. Als er von seinem Feuerwehr-Auto gesprungen war, konnte er Tante Billa und seine Schwester einen Augenblick nicht sehen. Die beiden standen auf der gegenüberliegenden Seite des Karussells und halfen gerade Katrinchen von dem Pony. Da Littel-Piet ein pfiffiger und flinker Junge war, lief er schnurstracks zum Ausgang. Doch er konnte Tante Billa und Biggi unmöglich einholen, da sie ja hinter ihm waren, noch ratlos am Karussell standen. Und von dem Menschenstrom auf dem Weg hinter ihm nun verdeckt waren. Nun, Littel-Piet wusste ja, wo er wohnte. Den Weg würde er schon allein finden.

Nein, er dachte nicht ein einziges Mal daran, dass ihn Tante Billa und Biggi  n i e  allein zurückgelassen hätten. Auch nicht daran, dass Tante Billa und seine Schwester ihn noch lange verzweifelt auf dem Weihnachtsmarkt suchen würden. Beide vor Sorge weinten. Und sie große Angst davor hatten, zu Mama Kobi ohne ihren jüngsten Sprössling zurückzukehren. Es tat Tante Billa so unendlich leid, dass sie mit ihrem gut gemeinten Vorschlag nun ihrer Schwester Kummer bereiten würde. Was sollten sie nur tun? Billa und Biggi sahen sich ratlos an.

Littel-Piet wusste, dass sie zum Weihnachtsmarkt nur fünf S-Bahnstationen gefahren waren. Er hatte Mama Kobi schon öfter auf der Strecke begleitet, wenn sie ihn zur Arbeit oder in das große Kaufhaus am Alexander-Platz mitgenommen hatte. Es war noch nicht dunkel, erst später Nachmittag. Littel-Piet sah auf dem S-Bahnsteig in der Ferne den Rauch aus den türmen des Heizkraftwerkes Rummelsburg hochsteigen. Da wollte er hin. An der S-Bahnstation "Rummelsburg" war er mit Mama Kobi schon oft ein- und ausgestiegen. Von dort kannte er den Fußweg nach Hause. Doch Littel-Piet war gerade in die erste Klasse gekommen. Er konnte zwar schon bis zwölf zählen, aber er konnte noch nicht lesen. Und er wusste auch nicht, dass nicht jede S-Bahn vom Bahnhof-Alexanderplatz die Strecke zu ihm nach Hause fuhr.

Littel-Piet war, wie schon gesagt, ein flinker Junge. Er steig in die erste S-Bahn ein und die Türme des Heizkraftwerkes kamen auch immer näher. Doch vor der letzten Station bog der S-Bahnzug plötzlich links ab. Die Türme wurden wieder kleiner, bis er sie nicht mehr sah. Da wusste Littel-Piet, der ein kluger Junge war, dass er nun auf der falschen Strecke fuhr. Er stieg an der nächsten Station aus und beschloss, zu Fuß nach Hause zu laufen. Er ging einen Weg an der Bahnlinie entlang, wo rechts und links kleine Häuser mit Gärten standen. Irgendwann würde er sicher zu Hause ankommen. Doch er wusste nicht, dass diese Bahnlinie stadtauswärts führte. Er in dieser Richtung nie nach Hause kommen würde. Inzwischen war es schon dämmrig geworden.

Doch Littel-Piet verspürte keine Angst. Er war ein pfiffiger und mutiger Junge und schritt zügig voran. Er dachte an seine Puppe daheim, für die er noch heute ein neues kleid nähen musste. Das jedenfalls war die Aufgabe, die seine Handarbeitslehrerin den Schülern aufgegeben hatte. An Tante Billa und Biggi, die ihn auf dem Weihnachtsmarkt noch immer verzweifelt suchten, dachte Littel-Piet keinen Augenblick. Und wenn, sah er sie schon zu Hause am Küchentisch sitzen. Er glaubte fest daran, dass sie vor ihm losgegangen waren. Denn er hatte ja Tante Billa, Biggi und Katrinchen auf dem Weihnachtsmarkt nicht mehr gesehen. Zuerst pfiff er ein Liedchen vor sich hin. Allmählich wurde es richtig dunkel. Nur der Schnee und die wenigen Lichter in den Gärten erhellten seinen Weg. Und am Himmel glänzten schon ein paar Sterne. Doch allmählich wurde er müde. Seine Beine wurden schwer und schwerer. Mühsam stapfte er durch den Schnee bis er nicht mehr konnte und erschöpft stehen blieb.

Da klingelte Littel-Piet an dem erstbesten Gartenhäuschen, wo er Licht sah. Eine alte Frau öffnete die Tür und schaute ihn verwundert an.

"Ich war auf dem Weihnachtsmarkt. Da hab' ich meine Schwester Biggi, Tante Billa und Katrinchen verloren. Ich will jetzt zu Fuß nach Hause laufen", sprudelte es aus dem kleinen Knirps heraus."Doch jetzt bin ich müde, ich muss mich erstmal ausruhen. Kann ich eine Nacht bei dir schlafen? Morgen gehe ich weiter", fuhr er mutig fort. Die Alte schmunzelte ein wenig und holte den kleinen Burschen rasch in ihre warme Küche.

In der Küche saß noch eine zweite  alte Frau. Die beiden sahen wie Schwestern aus. Sie hatten sich gerade ihr Abendbrot bereitet. Beide waren sehr freundlich zu Littel-Piet. Machten dem Jungen einen heißen Kakao und überließen ihm eine ihrer Stullen. Die war dick mit Schmalz und Leberwurst  geschmiert und schmeckte Littel-Piet ganz ausgezeichnet. Der nun erst bemerkte, dass er auch mächtigen Hunger hatte. Dann ging die erste Alte zum Telefon und rief irgendwo an. Zu Littel-Piets Überraschung standen zehn Minuten später zwei Polizisten vor der Tür. Die beiden Polizisten nahen ihn in einem echten Polizei-Auto mit. Vorher verabschiedete sich Littel-Piet aber noch nett von den freundlichen Alten. Und er versprach, bald mal wieder vorbeizukommen.

Die Fahrt in einem echten Polizei-Auto hatte sich Littel-Piet schon lange gewünscht. Und die Polizisten nahmen ihn sogar in eine echte Polizeiwache mit. Da musste er noch einmal erzählen, wo er herkam und wo er hinwollte. In der Polizeiwache saß noch ein dritter Polizist, der gab ihm ein Butterbrot mit Jagdwurst und dazu ein glas Himbeerbrause. Das schmeckte Littel-Piet noch besser als das Abendbrot der beiden Alten. Dann antworteten die drei auf seine Fragen und erklärten dem Jungen, was es so in einer Polizeiwache zu sehen gab. Nur ihre Pistolen zeigten sie ihm nicht. Der dritte Polizist setzte ihm ganz kurz mal seine echte Polizeimütze auf. Doch die rutschte Littel-Piet bis über die Augen und Ohren.

Dann fragte der erste Polizist:

"Heh, kleiner Mann, weißt du denn wie du mit dem Nachnamen heißt?" Das wusste Littel-Piet natürlich. "Kobi", sagte er rasch.

Dann fragte der zweite Polizist:

Und weißt du auch wie die Straße heißt, in der du wohnst?" Klar wusste Littel-Piet das, denn er war, wie schon gesagt, ein pfiffiger Junge.

"Lindenstraße!" antwortete er.

Dann fragte der dritte Polizist:

"Und kennst du auch deine Hausnummer?" Auch die kannte das kluge Bürschchen. "Fuffzig!", schmetterte er im reinsten Berliner Dialekt. Die Telefon-Nummer bekam der dritte Polizist dann ganz allein heraus und rief irgendwo an.

Nach einer Stunde kam Littel-Piets Vater vorbei, der geade von seiner Dienstreise nach Hause gekommen war. Vater Kobi sah, dass Littel-Piet es sich in der Polizeiwache schon recht gemütlich gemacht hatte. Er saß auf einem Sofa vor dem Fernsehapparat mit einer Decke auf den Knien. Gerade erzählte er den Polizisten, die ihn nach der Schule gefragt hatten, von dem Puppenkleid, das er heute noch zu Ende nähen musste. Und dabei schielte er immerzu auf den Fernseher, denn den Film für Erwachsene hätte er zu gern bis zum Schluss angeschaut.

Doch Vater Kobi wollte, dass Littel-Piet jetzt sofort mit ihm nach Hause kommt. Da musste Littel-Piet den freundlichen Polizisten "Tschüss!" sagen. Und er versprach auch Ihnen, bald mal wieder vorbeizukommen. Weil die Kobi-Familie kein Auto besaß, durfte Vater Kobi auf der Polizeiwache ein Taxi  anrufen. Denn inzwischen war es schon spät geworden.

Das war für Littel-Piet die zweitgrößte Überraschung an diesem Tag. Er war noch nie mit einem Taxi gefahren. Dies war das erste Mal. Als die beiden zu Hause ankamen, fielen alle Littel-Piet um den Hals. Seine Schwester Biggi und Tante Billa hatten verheulte Augen. Und Mama Kobi sagte immer nur:"Da bist du ja endlich, mein kleiner Junge!" Und sie drückte ihn so sehr an ihre Brust, dass ihm fast die Luft wegblieb. Und sogar Littel-Piets Bruder Jötgi hatte ein bisschen glänzende Augen und legte dem kleinen Bruder ganz liebevoll seinen Arm um die Schultern.

Alle fanden es toll, dass Littel-Piet wieder da war und nicht verloren gegangen war. Was ja auch hätte passieren können. Keiner meckerte mit ihm. Und dann bekam er sein drittes schönes Abendbrot an diesem Tag und seine zweite Tasse Kakao. Beim Abendbrot musste Littel-Piet noch einmal von seinem großen Abenteuer erzählen. Und alle staunten, wie klug und pfiffig Littel-Piet wieder einmal gewesen war.

Na, das mit der Klugheit hat bis heute angehalten. Deshalb ist Littel-Piet eines Tages auch Lehrer geworden. Heute weiß er natürlich, dass er damals einfach weggelaufen ist. Und dass so vieles unterwegs hätte passieren können. Aber diese Geschichte von Littel-Piet, der in der großen Stadt Berlin allein nach Hause laufen wollte, wird Big-Pieter, der Lehrer, seinen Schülern wohl niemals erzählen. Nur euch, die ihr gerade diese Geschichte gelesen habt.

Sybille B. Lindt  11/2021

Male ein Bild von Littel-Piet oder zeichne, was DU willst!

...

Schreibe eine zweite Geschichte über Littel-Piet oder schreibe, was DU willst!"

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Über Harmonie

von Sybille B. Lindt

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Ich weiß nicht, ob jeder Mensch Harmonie braucht. Manche Menschen erscheinen mir so, als bräuchten sie den Streit, die Auseinandersetzung ständig.

Ich liebe es, wenn Harmonie herrscht. In der Familie, bei den Freunden, auf der Arbeit. Draußen in der großen weiten Welt, die sich mehr und mehr von dem Ideal eines friedlichen Zusammenlebens aller Menschen zu entfernen scheint.

Doch auch mir ist es nie gelungen oder nur sehr selten, wirkliche Harmonie herzustellen. Peter hat ein ausgesprochenes Talent darin, meine harmonischen Stimmungen mit einer völlig unpassenden Bemerkung zu zerstören.

Bei meinen Kindern habe ich zu oft zugunsten der gewünschten Harmonie auf Grenzen setzen und Auseinandersetzungen verzichtet. Mich lieber zurückgezogen, sie machen lassen.

Die Harmonie zu den Nachbarn wurde in jedem Mietshaus von mindestens einem Nachbarn verhindert, der anderen nicht gut wollte. Und auf meiner Ostberliner Arbeitsstelle entpuppten sich ausgerechnet jene, mit denen ich in vermeintlich harmonischem Verhältnis stand, als fiese Spitzel.

Woimmer und wannimmer ich versuchte, mit Menschen in harmonischem Einklang zu leben, gelang es mir nur sporadisch oder gar nicht.

Aber es gibt Orte und Zeiten, wo ich vollkommene Harmonie empfinde. Zum Beispiel habe ich mich immer gern in eine wildwachsende Wiese gelegt, vorausgesetzt kein Ameisenvolk störte meinen blick zu den vorbeiziehenden Schäfchenwolken am lichtblauen Himmel.

Oder in unserem Sommerhausgarten im Mecklenburgischen. Am Abend, wenn Peter und ich an dem kleinen Holztisch vor dem Staketenzaun sitzen, hinter dem das große Feld beginnt und wir still darauf warten, wie die Sonne am Horizont untergeht. Ja, dann stellt sich wohl Harmonie ein.

Und wenn ich morgens in der Stadtwohnung im Süden, eher als alle anderen im Haus erwache, auf die Terrasse trete, mich an das runde Tischchen setze, meine Blumen betrachte, den Vögeln zuhöre, die graue Katze von der Nachbarin vorbeischleichen sehe und zu schreiben beginne. Ja, dann empfinde ich mich und meine Welt in ausgesprochen harmonischer Stimmung.

Doch auch im winter und namentlich in der Weihnachtszeit empfange ich harmonische Schwingungen. Ich weiß, manche sagen: Alles Blödsinn, alles nur Heuchelei, so zu tun, als sei man eine glückliche Familie. Warum denn nicht? Warum sollten die Menschen, die sonst das ganze Jahr überkreuz liegen, sich nicht auch einmal etwas Nettes sagen und sich gegenseitig etwas schenken? Vor allem ein bisschen mehr Verständnis, Liebe und Geborgenheit. Wenn jeder der Versammelten das tut, etwas von sich abgibt, das eigene Ego um ein winziges zurücknimmt, sich jedenfalls bemüht, können das ein paar wundervolle Weihnachtstage werden, die die Familie wieder oder stärker zusammenbringt und allen ein bisschen Kraft und Schwung für das nächste gewiss wieder stressige Jahr mitgeben.

 

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Weihnachtsfeier für unsere kleinen Mieter

oder  Ostberlin 1984

  von Sybille B. Lindt

 

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„Weihnachtsfeier für unsere kleinen Mieter!“ Ein Zettel. Mit grünem Weihnachtsbaum. Unausgemalt. Mit roten Kerzen. Am Schwarzen Brett. Im Hausflur. Ziemlich hoch. Aber der Weihnachtsbaum ist schön verständlich. Für Kinder.

  Der Weihnachtsfeierklubraum. Ein Tisch mit einer Kanne Kakao für die kleinen Mieter. Ein Tisch mit einem Topf Glühwein für die Frauen der großen Mieter oder die Mütter der kleinen Mieter. Zwei Weihnachtsbäume mit elektrischen Kerzen und einigen Silberkugeln. Je eine echte Kerze auf jedem Tisch. Die macht es schön weihnachtlich.

  Na, nun wollen wir anfangen.“Bitte. Esst Kinder! Da ist auch Gebäck aus der Halle.“ Die kleinen Mieter sitzen verlegen herum. Sie knabbern, wenig interessiert, an dem Gebäck aus der Halle. Ja, die Apfelsine. Die wird von einigen geschlachtet.

  Aber die Mütter der kleinen Mieter sind im Gespräch. Am Tisch für die großen Mieter. Man sieht sich zu wenig. Man redet zu wenig. Miteinander. Und jede hat etwas zu erzählen. Und jede will etwas erzählen. Über eingerichtete Zimmer, fehlende Türen, größere Wohnungen. Über Leute, die früher hier wohnten.

Da. Nun werden die kleinen Mieter unruhig. Der Weihnachtsfeierorganisator und seine Frau gehen nach vorn. Dort liegt ein umgekippter Tisch. Der ist nun ein Puppentheater. Der Weihnachtsfeierorganisator und seine Frau spielen das Stück vom Kasper, vom Hörnchen aus dem Thüringer Wald und vom Drachen. Das Hörnchen ist dumm. Es weiß nicht, dass der Drache grün ist. Der Kasper fragt die Kinder. Die wissen es auch nicht. Obwohl sich der Drache auf der oberen Tischkante sichtbar räkelt. Der Drache bekommt nicht das Hörnchen, sondern einen Pfefferkuchen zum Mittag. Dann wird ihm das Maul zugebunden. Die Frauen der großen Mieter lachen sich fast kaputt. Sie klatschen sehr laut. Die kleinen Mieter gucken sehr ernst zu dem umgekippten Tisch. Sie klatschen leiser. Nun ist Schluss. Mit dem Puppenspiel. Schade. Es war so kurz. Die kleinen Mieter dürfen die Puppen anfassen. „Los, Kinder. Spielt doch mal!“ Den kleinen Mietern fällt nichts ein. Sie spielen nicht hinter dem umgekippten Tisch. Die kleinen Mieter laufen mit den Puppen im Weihnachtsfeierklubraum herum.

  Aber die Frauen der großen Mieter sind wieder im Gespräch. Am Tisch für die großen Mieter. Sie trinken Glühwein. „Hier Kinder, sind auch ein paar Tischspiele. Spielt doch mal!“ Am Tisch für die kleinen Mieter.

Einige würfeln. Einige legen Disko-Platten auf. Die Kleineren laufen um die Tische herum. Sonst passiert nichts. Allmählich wird es leiser... Da. Eine der Frauen schaut auf die Uhr. Was, schon zwei Stunden herum. Nun wird es aber Zeit. Wir müssen Schluss machen. Abräumen. Abwaschen. Ordnung schaffen. In dem Weihnachtsfeierklubraum.

„Ja, Kinder. Nun ist die Weihnachtsfeier für unsere kleinen Mieter zu En...“. Doch. Wo? Die Kinder. Der Tisch der kleinen Mieter ist leer. Schon lange.

 

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Osterspecial 2021

Die ersten weißen Kniestrümpfe

                                                                     by   Sybille B. Lindt

Als ich ein Kind war, lebte ich in einer Kleinstadt am Rande des Oderbruches, wo Temperaturen von -20° C im Winter keine Seltenheit waren und eine dichte Schneedecke ebenso. Doch wenn der Schnee zu tauen begann, wir nicht mehr die Berge herunterrodeln konnten und alle ungepflasterten Wege matschig wurden, dann sehnten wir Kinder uns nach  dem Frühling. Nach Vogelgesang und den ersten Schneeglöckchen und Veilchen. Danach, dass es endlich wärmer wurde und wir die ersten Kniestrümpfe anziehen durften. Tragen Kinder heute eigentlich noch Kniestrümpfe? Vielleicht unter Hosen? In meiner Kindheit in den 50 ern trugen wir sie stolz. Denn wenn die Zeit der Kniestrümpfe begann, konnten wir uns von den ausgebeulten Trainingshosen und den warmen Strickstrümpfen, die an Leibchen befestigt wurden, endlich befreien.

Wenn es um den 1. April herum warm war, dann durften wir am ersten Sonntag im April weiße Kniestrümpfe anziehen. Darauf waren wir Kinder des Neubaus sehr stolz. Und bedauerten die Ärmsten, denen die Mütter noch keine Kniestrümpfe erlaubt hatten. Wenn es Anfang April noch zu kalt war, dann wurde Ostern der Termin für die ersten weißen Kniestrümpfe.

Wir freuten uns auch auf die ersten Kniestrümpfe, weil das der Beginn unserer Spielzeit vor dem Haus und auf dem Hof mit den Nachbarskindern bedeutete. Wir endlich unsere spiele nach draußen verlegen durften. Vor dem Haus spielten wir Hopse mit Glasscherben, mit Buggern und Murmeln oder "Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser" und "Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?", mit dem Ball "Halli-Hallo!", Ballspiele an der Hauswand und abends mit den Großen Völkerball auf der Straße. Nur selten verirrte sich damals ein Auto in unsere Kleinstadt. Völkerball war ein Wettkampf für alle, Groß und Klein spielten in einer Mannschaft. Die Mütter, einige Väter und Nachbarn standen vor den Haustüren beisammen, tratschten und feuerten uns beim Spiel an. Auf dem Hof des Neubaukarrees standen viele unübersichtliche Schuppen und Holzstapel, ideal zum Versteckspiel. An unserer Ecke hatte Großmutter eine Trauerweide gepflanzt unter der wir Kinder uns auf Decken im Grase zusammenfanden, mit unseren Puppen spielten, Bücher lasen oder darüber sprachen. Es war damals noch eine Zeit ohne Fernseher, CD-Player, Computer, Workman und Smarthphone und doch fehlte uns nichts, wenn wir nur ohne die Erwachsenen spielen durften. Wir waren so mit dem Spielen beschäftigt, dass die Zeit bis zum Abendbrot, wenn Großmutter zum Essen rief, uns immer viel zu kurz vorkam.

Zu Ostern machten wir tatsächlich immer einen Osterspaziergang mit der Familie. Als meine jüngere Schwester und ich so im vorschul- und Grundschulalter waren, spazierten unsere Eltern Ostern mit uns in das fünf Kilometer entfernte Nachbardorf Gusow, um dort eine mit den Eltern befreundete Lehrersfamilie zu besuchen. Dort war es immer lustiger als bei uns zu Hause. Der Vater spielte volkstümliche und lustige Lieder auf der Geige, die wir Besucher-Kinder begeistert mitsangen. Sicher hatte dieser begnadet leicht spielende Lehrer seinen Anteil daran, dass ich später auch das Geigenspiel erlernen wollte. Es aber nie zu seiner Vollkommenheit brachte. Einfach so, die Geige zu nehmen und aus dem Hut, locker und mit viel Gefühl und Temperament aufzuspielen, ganz ohne Noten. Unterwegs gab es für uns Kinder natürlich immer das eine oder andere Osterei am Straßenrand zu suchen. Die plötzlich auftauchten, ohne dass wir bemerkten, ob der Osterhase oder Mutter sie versteckt hatten. Wenn wir wieder nach Hause kamen, waren wir mit fünf oder sechs Jahren zehn Kilometer am Tag gelaufen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mal schlapp machten oder die Strecke als anstrengend empfanden. Wir wussten damals allerdings auch nicht wie weit der Weg war, wie viele Kilometer wir gelaufen. Als das nette Lehrerehepaar aus dem Dorf wegzog, machten wir mit der älteren Schwester und unseren Verwandten, die aus Berlin oder Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt oder aus einem Dorf bei Magdeburg Ostern zu Besuch gekommen waren, auf der Anhöhe vor der Stadt einen Osterspaziergang. Wir streiften durch die Berge bis zum 

weit sichtbaren Ehrenmal, für die bei der letzten großen Schlacht vor Berlin im Oderbruch gefallenen Sowjetsoldaten. Den riesigen bronzenen Soldat mit einem Gewehr vor der Brust schuf der bekannte russische Bildhauer Lew Kerbel im Herbst 1945. Das Denkmal, wie die Einheimischen das Ehrenmal nannten, war ein beliebtes Foto-Motiv bei Spaziergängern, ohne dass wir uns als Kinder des Hintergrundes bewusst waren oder drüber nachdachten. Der Berg mit dem Ehrenmal, der in den Abendstunden gern von Liebespaaren aufgesucht wurde, hieß bei den Einheimischen "Verschönerungsberg". Nach dem Denkmal spazierten wir zum Bahnhof, der zwei Kilometer von der Stadtmitte entfernt war und setzten uns in das Gartenlokal des Bahnhofs, das oft mit bunten Glühbirnen, Birkenreisern und Lampions geschmückt war. Hier bekamen wir Kinder die ersehnte himbeerrote Brause. Die Ostereier hatten wir schon unterwegs in den Bergen gefunden, sie lagen plötzlich im Grase als bunt gefärbte Eier oder winzige Schokoladen-Eier oder kleine Schoko-Osterhasen. Auch bei diesen Spaziergängen durch die Berge über das Denkmal zum Bahnhof und wieder in die Stadt zurück merkten wir Kleinen die Kilometer in den Beinen nicht.

Auch zu Ostern trugen wir stolz unsere weißen Kniestrümpfe. Ein Malheur war nur, wenn wir beim Spielen und Toben in eine Dreckpfütze stolperten und mit völlig verschmutzten nicht mehr weißen Kniestrümpfen nach Hause kamen. Dann schimpfte Mutter uns aus, obwohl es doch Ostern war und sie das hätte voraussehen könne. Mit weißen Kniestrümpfen so zu spielen, dass sie nachher noch schneeweiß aussahen, das schaffte kein Kind aus unserem Haus.

 

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