Osterreise nach Polen - Die Steinkreise von Odri

 

Osterspecial 2022 

Osterreise nach Polen - Die Steinkreise von Odri

                                                                                                        by         Sybille B. Lindt

 

 Die Reisegruppe dieser Osterreise 1998 nach Polen ist eine zusammengewürfelte Truppe von Jungen und Alten aus den alten Bundesländern. Ich bin die Einzige aus den neuen. Doch alle verbindet ein roter Faden mit Polen, sei es das Grab der Großmutter, die eigene Kindheit oder ein touristisches Interesse an den früheren deutschen Provinzen Pommern und Westpreußen.

Hahnenschreie wecken mich gegen halb sechs. Doch ich war schon wach und schaue nun über die Dächer der Bauernhöfe von Samotschin (Szamocin), unserer ersten Station der Reise. Zum Frühstück sitzen wir in einem rittersaalgroßen Raum des ehemaligen Speichers, an dessen Stirnseite eine schwarzgetäfelte Bar aufgebaut ist. Der längliche Esstisch ist nur für uns vier Frauen gedeckt, die in dieser Pension für die nächsten drei Nächte Quartier bezogen haben. In der gegenüberliegenden Ecke befindet sich ein Kamin, der jeden angeheizt wird. "Hänschen", unser Pensionswirt mit deutschen Wurzeln, kommt und gießt Kaffee ein. Auf unserem Tisch stehen vier Sorten Marmelade, ebenso viele Sorten Brot, frische Brötchen und eine Auswahl Wurst, Schinken, Käse, kleine Halbkugeln magerer Sülze, die wir alle kosten und ein Korb künstlerisch bemalter Ostereier mit folkloristischen Motiven. Wüsste gern, ob das ein normales polnisches Frühstück ist.

In Lübeck im Regen abgefahren, wird uns nun Aprilsonne während der ganzen Osterreise in Polen begleiten. Heute fahren wir über Zempelburg (Sopolne) nach Tuchel (Tuchola) in die Tucheler Heide (Borie Tucholskie), danach zu den Steinkreisen von Odri. Die Orte liegen in einem Gebiet Mittelpolens, das sich vom Süden der deutschen Provinz Westpommern bis zum Norden der ehemaligen Grenzmark Posen erstreckt. Während Zempelburg bei mir keine nennenswerten Eindrücke hinterlässt, gefiel mir der große geschlossene Markt in Tuchel recht gut, mit seinen restaurierten kleinstädtischen Bürgerhäusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert.

Unsere beiden wendigen Kleinbusse halten an einem familienfreundlichen Rastplatz in der Tucheler Heide (Puszsza Tucholskie). Es ist das größte zusammenhängende Waldgebiet Polens und ein Landschaftsschutzgebiet. Auf sandigen Ebenen und Hügeln wachsen Schwarzkiefern, Weibuchen, Birken und seltene Heidepflanzen. Der Platz liegt an der Brahe (Brda), ein schnellläufiger Fluss, der schon seit den 20er Jahren bei Wassersportlern beliebt ist. Wir haben zwanzig Minuten Zeit, uns umzusehen. Es ist ein herrlicher Ausgangspunkt für Familienausflüge in den Wald, zum Pilze suchen und Beeren sammeln. Ich schaue dem Spiel der Kinder einer polnischen Familie zu, die an Klettergerüsten turnen. Muss dabei an meine Tochter denken, damals, als sie so klein war und immer ganz oben saß, während ich vor angst kaum hinschauen konnte.

Heute beim Frühstück hat Frau Grand von ihren amerika-Reisen erzählt, gestern beim Abendbrot Frau d. Hub von ihrer Südafrika-Tour. Beide schwärmten sie von der schönsten Straße der Welt, dem Highway Nr.1 entlang der amerikanischen Westküste, von Alaska bis Feuerland. Wie selbstverständlich es für sie war, zu jeder Zeit an jedem Ort der Welt anzuhalten, ohne unüberwindliche Grenzen! Sie sind nicht die Einzigen auf dieser Reise, die mir aus ihrem Leben erzählen, mir Erlebnisse mitteilen, von denen ich hinter der Mauer nur träumen konnte.

Am nächsten Halt bemerke ich, dass ich meinen Fotoapparat an dem Rastplatz Tucheler Heide vergessen habe. Während die anderen Reisenden ein Technisches Denkmal am Brahe-Kanal besichtigen, sitze ich grübelnd auf einer Bank. Der Kanal kreuzt hier das Flüsschen Czerska Struga. Da das Niveau des Kanals höher liegt, wurde der hier Mitte des 19. Jahrhunderts nach römischem Vorbild mit einem Aquädukt über den Fluss geleitet. Für Fußgänger gibt es eine Treppe nach unten, da können Spaziergänger neben dem Flüsschen unter dem Aquädukt hindurchgehen, am anderen Ufer wieder nach oben steigen und ein Stück weiter über eine Brücke des Kanals an das Ausgangsufer zurückkehren. Doch ich versäume den einmaligen Spaziergang, sitze auf der Bank am Aquädukt und überlege, ob ich um "zurückfahren" bitten sollte. Die Chance ist doch groß, dass ich meinen Fotoapparat wiederbekomme. Es war noch nicht viel Betrieb am frühen Vormittag an dem Rastplatz in der Tucheler Heide. Vielleicht hat der Verkäufer am Imbissstand, bei dem ich ein Eis kaufte, den Apparat an sich genommen? Ich sage es zögernd unserem polnischen Fahrer Adam. Der sich zu Beginn der Reise mit: "Adam! Kann man nicht übersetzen.", vorgestellt hatte und mich im Laufe der Reise noch oft mit Witz und Schlagfertigkeit überraschen wird. Er fährt mit mir sogleich die 20 km zum Rastplatz zurück und noch ehe Adam etwas fragen kann, reicht uns der Imbissverkäufer den Apparat über die Theke. Ich bin ja sooo froh! Gewiss, es war kein besonderer Apparat, aber all die Bilder, die schon auf dem Film waren, hätte ich nicht wiederholen können. Ich bin auf einer Studienfahrt durch Polen, die unsere Reisegruppe von Lübeck, über Stettin nach Pommern und ins ehemalige Westpreußen geführt hat. Später reisen wir noch nach Danzig und ins Ermland Der Rückweg wird hinter Danzig auf einer nördlicheren route an der Ostsee entlang führen.

In dem Wald um uns sind herrliche kleine Seen eingebettet, die durch die Bäume blinken. Schon auf dem Weg zum Rastplatz in der Tucheler Heide kamen wir an schönen alten Holzhäusern vorbei. Auch jetzt nach dem Aquädukt fallen mir einzelne Holzhäuser auf, auch einige moderne Einfamilienhäuser und die meist zweistöckigen kastenförmigen Flachdachhäuser aus den 70er und 80er Jahren, die nicht so recht ins Dorf passen wollen, für mich recht hässlich anzuschauen sind, aber als "typisch polnisch" immer wieder auffallen. "Häuser für ganz  fleißige Arbeiter!", sagt Adam mit ironischem Lächeln. 'Privilegien für systemtreue kleine Leute in einer Zeit ständiger Wohnungsknappheit', denke ich.

Ich weiß nicht, ob wir dreißig Kilometer oder mehr durch den Wald gefahren sind, wir halten an dem archäologischen Denkmal "Die Steinkreise von Odri" und sind noch immer inmitten unendlicher Wälder. Die Steinkreise von Odri sind das zweitgrößte Denkmal-Reservat dieser Art in Europa. Sie vermitteln astronomische Daten wie Himmelsrichtungen und Planetenbahnen, waren Kultstätten und Gräberfelder. Besondere Energieströme sollen von ihnen ausgehen. Es sind zwölf Steinkreise mit einem Durchmesser von zwölf bis dreiunddreißig Metern, mit jeweils sechzehn bis neunundzwanzig Steinen, die in regelmäßigen Abständen tief in der Erde stecken, nur zwanzig bis siebzig Zentimeter herausragen. Vermutlich waren es Thingplätze der Goten, die hier im ersten bis zweiten Jahrhundert nach Chr. siedelten. Die Architektur der Anlage entspricht dem Muster skandinavischer Kultstätten. Ich lese mir das Infoblatt zu den Steinkreisen von Odri durch. Erst um 1870 haben Waldarbeiter diese Steinkreise entdeckt. Dann sind sie von Wissenschaftlern vermessen worden. Vermutlich wurden die Steinblöcke auf dem Wasser von Skandinavien hierher gebracht. An das unmittelbare Waldgebiet grenzt das Schwarzwasser (Czarna Woda), ein recht ursprüngliches Flüsschen, das eine Verbindung zur Brahe hat, die in die Weichsel mündet. Ich bin auf einer Bank am zweiten Steinkreis sitzen geblieben. Längst sind die Letzten der Reisegruppe aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Und nun empfinde ich diese unendliche ruhe, wohl zum ersten Mal in meinem Leben, eine Waldesruh im wörtlichen sinne. Hier zwitschern nicht einmal Vögel in dem grauen Geäst der dicht stehenden hohen Bäume. Nur hin und wieder ein Käfer auf dem Waldboden macht diesen Ausschnitt von Zeit und Raum lebendig. Das im April noch verdorrte Heidekraut auf dem Waldboden steigert den Eindruck der unwirklichen Stille. Ich genieße dieses Innehalten und Alleinsein nach den vielen Stationen der Reise. Vielleicht bin ich im Begriff den schönsten, den wichtigsten Steinkreis von Odri zu versäumen. Aber ich kann

mich nicht erheben. Mich schwindelt von der Stille. Und mir ist es, als würde ich mich einschwingen in diesen Platz, der gewiss eine magische Ausstrahlung besitzt.

 

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Osterspecial 2021

Die ersten weißen Kniestrümpfe

                                                                     by   Sybille B. Lindt

Als ich ein Kind war, lebte ich in einer Kleinstadt am Rande des Oderbruches, wo Temperaturen von -20° C im Winter keine Seltenheit waren und eine dichte Schneedecke ebenso. Doch wenn der Schnee zu tauen begann, wir nicht mehr die Berge herunterrodeln konnten und alle ungepflasterten Wege matschig wurden, dann sehnten wir Kinder uns nach  dem Frühling. Nach Vogelgesang und den ersten Schneeglöckchen und Veilchen. Danach, dass es endlich wärmer wurde und wir die ersten Kniestrümpfe anziehen durften. Tragen Kinder heute eigentlich noch Kniestrümpfe? Vielleicht unter Hosen? In meiner Kindheit in den 50 ern trugen wir sie stolz. Denn wenn die Zeit der Kniestrümpfe begann, konnten wir uns von den ausgebeulten Trainingshosen und den warmen Strickstrümpfen, die an Leibchen befestigt wurden, endlich befreien.

Wenn es um den 1. April herum warm war, dann durften wir am ersten Sonntag im April weiße Kniestrümpfe anziehen. Darauf waren wir Kinder des Neubaus sehr stolz. Und bedauerten die Ärmsten, denen die Mütter noch keine Kniestrümpfe erlaubt hatten. Wenn es Anfang April noch zu kalt war, dann wurde Ostern der Termin für die ersten weißen Kniestrümpfe.

Wir freuten uns auch auf die ersten Kniestrümpfe, weil das der Beginn unserer Spielzeit vor dem Haus und auf dem Hof mit den Nachbarskindern bedeutete. Wir endlich unsere spiele nach draußen verlegen durften. Vor dem Haus spielten wir Hopse mit Glasscherben, mit Buggern und Murmeln oder "Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser" und "Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?", mit dem Ball "Halli-Hallo!", Ballspiele an der Hauswand und abends mit den Großen Völkerball auf der Straße. Nur selten verirrte sich damals ein Auto in unsere Kleinstadt. Völkerball war ein Wettkampf für alle, Groß und Klein spielten in einer Mannschaft. Die Mütter, einige Väter und Nachbarn standen vor den Haustüren beisammen, tratschten und feuerten uns beim Spiel an. Auf dem Hof des Neubaukarrees standen viele unübersichtliche Schuppen und Holzstapel, ideal zum Versteckspiel. An unserer Ecke hatte Großmutter eine Trauerweide gepflanzt unter der wir Kinder uns auf Decken im Grase zusammenfanden, mit unseren Puppen spielten, Bücher lasen oder darüber sprachen. Es war damals noch eine Zeit ohne Fernseher, CD-Player, Computer, Workman und Smarthphone und doch fehlte uns nichts, wenn wir nur ohne die Erwachsenen spielen durften. Wir waren so mit dem Spielen beschäftigt, dass die Zeit bis zum Abendbrot, wenn Großmutter zum Essen rief, uns immer viel zu kurz vorkam.

Zu Ostern machten wir tatsächlich immer einen Osterspaziergang mit der Familie. Als meine jüngere Schwester und ich so im vorschul- und Grundschulalter waren, spazierten unsere Eltern Ostern mit uns in das fünf Kilometer entfernte Nachbardorf Gusow, um dort eine mit den Eltern befreundete Lehrersfamilie zu besuchen. Dort war es immer lustiger als bei uns zu Hause. Der Vater spielte volkstümliche und lustige Lieder auf der Geige, die wir Besucher-Kinder begeistert mitsangen. Sicher hatte dieser begnadet leicht spielende Lehrer seinen Anteil daran, dass ich später auch das Geigenspiel erlernen wollte. Es aber nie zu seiner Vollkommenheit brachte. Einfach so, die Geige zu nehmen und aus dem Hut, locker und mit viel Gefühl und Temperament aufzuspielen, ganz ohne Noten. Unterwegs gab es für uns Kinder natürlich immer das eine oder andere Osterei am Straßenrand zu suchen. Die plötzlich auftauchten, ohne dass wir bemerkten, ob der Osterhase oder Mutter sie versteckt hatten. Wenn wir wieder nach Hause kamen, waren wir mit fünf oder sechs Jahren zehn Kilometer am Tag gelaufen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mal schlapp machten oder die Strecke als anstrengend empfanden. Wir wussten damals allerdings auch nicht wie weit der Weg war, wie viele Kilometer wir gelaufen. Als das nette Lehrerehepaar aus dem Dorf wegzog, machten wir mit der älteren Schwester und unseren Verwandten, die aus Berlin oder Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt oder aus einem Dorf bei Magdeburg Ostern zu Besuch gekommen waren, auf der Anhöhe vor der Stadt einen Osterspaziergang. Wir streiften durch die Berge bis zum 

weit sichtbaren Ehrenmal, für die bei der letzten großen Schlacht vor Berlin im Oderbruch gefallenen Sowjetsoldaten. Den riesigen bronzenen Soldat mit einem Gewehr vor der Brust schuf der bekannte russische Bildhauer Lew Kerbel im Herbst 1945. Das Denkmal, wie die Einheimischen das Ehrenmal nannten, war ein beliebtes Foto-Motiv bei Spaziergängern, ohne dass wir uns als Kinder des Hintergrundes bewusst waren oder drüber nachdachten. Der Berg mit dem Ehrenmal, der in den Abendstunden gern von Liebespaaren aufgesucht wurde, hieß bei den Einheimischen "Verschönerungsberg". Nach dem Denkmal spazierten wir zum Bahnhof, der zwei Kilometer von der Stadtmitte entfernt war und setzten uns in das Gartenlokal des Bahnhofs, das oft mit bunten Glühbirnen, Birkenreisern und Lampions geschmückt war. Hier bekamen wir Kinder die ersehnte himbeerrote Brause. Die Ostereier hatten wir schon unterwegs in den Bergen gefunden, sie lagen plötzlich im Grase als bunt gefärbte Eier oder winzige Schokoladen-Eier oder kleine Schoko-Osterhasen. Auch bei diesen Spaziergängen durch die Berge über das Denkmal zum Bahnhof und wieder in die Stadt zurück merkten wir Kleinen die Kilometer in den Beinen nicht.

Auch zu Ostern trugen wir stolz unsere weißen Kniestrümpfe. Ein Malheur war nur, wenn wir beim Spielen und Toben in eine Dreckpfütze stolperten und mit völlig verschmutzten nicht mehr weißen Kniestrümpfen nach Hause kamen. Dann schimpfte Mutter uns aus, obwohl es doch Ostern war und sie das hätte voraussehen könne. Mit weißen Kniestrümpfen so zu spielen, dass sie nachher noch schneeweiß aussahen, das schaffte kein Kind aus unserem Haus.

 

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